Neuerscheinung: „Hinter den Kulissen“

In der zerbröckelnden Welt des 20. Jahrhunderts entfaltet sich eine fesselnde Geschichte. Das Theater und seine Techniker sind der Mittelpunkt dieses Romans, ein Spiegel der turbulenten deutschen Geschichte zwischen 1906 und 1989.

August Moser, ein Perfektionist und technischer Experte, findet sich inmitten der sich wandelnden politischen Landschaft wieder. Seine Leidenschaft für die neuen technischen Möglichkeiten wird auf die Probe gestellt, als die Nazis an die Macht kommen. Moser muss seine technischen Fähigkeiten mit moralischem Mut vereinen.

Als Obersturmbannführer Schottmann mit seiner fanatischen Begeisterung für die NSDAP in die Geschicke eines Theaters und später in die der Maschinenfabrik Wiesbaden eingreift, führt dies zu Konflikten. Schottmanns Versuch, das Theater für Nazi-Propaganda zu nutzen, stößt auf subtilen Widerstand, lässt sich aber nicht aufhalten. Ein Opfer ist August Mosers Kollege und Freund, der jüdische Ingenieur Gottfried Derenburg.

Mit dem Ausbruch des Krieges wird das Theater auch hinter den Kulissen zum Mikrokosmos größerer Konflikte. Die Charaktere müssen Entscheidungen treffen, die ihre Loyalitäten und Überzeugungen auf die Probe stellen. Schottmanns Desertion in die Sowjetunion und seine Verwandlung in Wladimir Tenkow, unterstützt von seiner Frau Valentina, einer Kommunistin, gibt der Geschichte eine überraschende Wendung..

In der Nachkriegszeit wird das Theater zum Schauplatz des Kalten Krieges. Valentina Tenkowa navigiert durch die Widersprüche des neuen Systems in der DDR und schützt die Geheimnisse ihres Mannes und will so die Karriere ihres gemeinsamen Sohnes Boris nicht gefährden.

Gottfried Derenburgs Sohn, Paul, kehrt nach der Emigration nach Deutschland zurück und findet seinen Weg ins Theater, die Freundschaft zu August Moser und das Vermächtnis seines von den Nazis ermordeten Vaters begleiten ihn.

Die Geschichte kulminiert in den turbulenten Jahren vor dem Fall der Berliner Mauer. Maria Kurz, eine Ingenieurin und Umweltaktivistin, die Paul Dreneburg heiratet, erlebt den wachsenden Dissens in der DDR. Ihr Kampf um Freiheit spiegelt die Umwälzungen des Landes wider.

Dieser Roman regt zum Nachdenken über unsere eigenen Geschichten an und die Entscheidungen, die wir angesichts enthüllter Wahrheiten treffen müssen. 

Wenn der Vorhang fällt, bleibt die Frage: Wie entscheiden wir uns, wenn wir mit den Schatten der Vergangenheit konfrontiert werden? Die Antwort liegt in den Händen jeder Generation, die ihre eigene Geschichte schreibt.

eBook (20,00 €) oder Taschenbuch (29,00€), 540 Seiten

ab 10. Oktober 2025 verfügbar

Lisa Fittko:“Meine Biographie liegt in der Weltgeschichte“

Lisa Fittko lebte bis zu ihrem Tod im Jahr 2005 in Chicago. Oft wurde sie geehrt für ihre Fluchthilfe im Jahr 1941, als sie mit ihrem Ehemann Hans unter anderem Walter Benjamin auf einem steilen Bergpfad über die Pyrenäen aus dem besetzten Frankreich nach Spanien brachte. Doch jener “Weg über die Pyrenäen”, welchen sie auch in ihrem gleichnamigen Buch (DTV/ Hanser Verlag) beschrieb, ist nur eine Episode in Lisa Fittko’s Leben.

Geboren wurde sie in einer jüdischen Familie im Jahr 1909 in der Kleinstadt Ungvar, die damals zum ungarischen Teil der k.u.k. Monarchie gehörte. Später wurde daraus Ushhorod und dann Ushgorod und gehörte zu Tschechien, Deutschland, der Sowejtunion und heute zur Ukraine.

Lisa Fittko erlebte den ersten Weltkrieg in Wien, wo ihr Vater die Antikriegszeitschrift “Die Waage” herausgab und sich finanziell ruinierte. Nach der Übersiedlung nach Berlin schloß sie sich zuerst dem Sozialistischen Schülerbund an und arbeitete nach Hitlers Machtergreifung im Widerstand. Bald mußte sie in die Illegalität gehen und sogar Deutschland verlassen. In Tschechien lernte sie Hans Fittko, ihren späteren Mann kennen, aus dem Exil arbeiten sie gemeinsam weiter gegen das Nazi-Regime. Mehrfach entkamen sie knapp der Auslieferung. Ihre Flucht führte sie durch die Schweiz, Holland, in Frankreich zuerst nach

Paris, dann ins Internierungslager Gurs, dann mit tausenden anderen Flüchtlingen nach Marseille. Von dort schien es kein Entkommen zu geben, trotz Paßfälschungen und aller Bemühungen. So beschlossen beide, einen Fluchtweg zu Fuß zwischen dem franzöischen Cerbère und dem spanischen Portbou zu erkunden. Der Gesandte des American Rescue Committee Varian Fry, der nach Marseille gekommen war um Lion Feuchtwanger, Franz Werfel und andere in die Freiheit zu holen ergreift die Gelegenheit und bittet die Fittkos die Flucht zu organisieren.

So gelang es, über 100 Menschen aus Frankreich heraus zu bringen, bis die Faschisten das Nadelöhr stopften. Lisa und Hans Fittko können diesen Weg nicht mehr gehen. Wie sie dennoch ein Schiff erreichten und nach Cuba gelangten, wie sie in den 50er Jahren in die USA gelangen, das und viele Begebenheiten mehr prägen das Leben der Lisa Fittko.

Hanne und Hubert Eckart besuchten 2001 diese außergewöhnliche, aufrechte, heitere und kluge Frau in Chicago. In vielen Stunden entstanden diese Gesprächsaufzeichnungen, in denen Lisa Fittko ihr fast einJahrhundert währendes Leben anschaulich und lebendig erzählt.

Das Ergebnis ist ein Hörbuch (3 Audio-CDs), welches hier kostenlos bestellt werden kann.

Neuerscheinung

  1. Auflage, 112 Seiten, Paperback Taschenbuch; 10,00 € zzgl. Porto (Warensendung 2,70 €) auch als eBook erhältlich! Bestellungen per Email hier

 

Von Teelöffeln und Socken

Es sind nicht immer die großen Dinge, die die Zeitläufte bestimmen. Auch viele kleinen Ereignisse, die wir zwar wahrnehmen, ihnen aber nicht die gebotene Aufmerksamkeit schenken, sollten nicht unbeachtet bleiben.

Zum Beispiel verschwinden weltweit überdurchschnittlich viele Teelöffel in Kantinen, Büros, Mensen, Speisewagen,, Co-Working Spaces. Jeder kann das leicht nachprüfen. Geht man davon aus, das dereinst zur Grundausstattung die gleiche Anzahl an Messern, Gabeln, Löffeln und eben Teelöffeln gehörten, müssten bei einer Inventur auch annähernd die gleiche Anzahl jeweils noch vorhanden sein. Ist es aber nicht. Machen Sie den Test und Sie werden feststellen, dass überdurchschnittlich viele Teelöffel fehlen.

In Deutschland könnten jährlich ca. 288 Millionen Teelöffel verschwinden bzw. müssten ersetzt werden!
Das ist kein Pappenstiel.
Umso erstaunlicher, dass sich bisher niemand hierzulande mit dem Thema beschäftigt hat.
Dafür aber glücklicherweise in Australien.
Drei Wissenschafter des Center for Epidemiology and Population Health Research in Melbourne waren in der Lage, ihr angestammtes Fachgebiet zu verlassen und wissenschaftlich das Phänomen zu untersuchen.
“70 neu gekaufte Teelöffel – davon 16 extra teure – wurden diskret nummeriert (mit Nagellack) und in den 8 Teeküchen des Instituts verteilt. Danach wurden die Löffel über 5 Monate wöchentlich gezählt. Nun wurden alle Institutsmitarbeiter über den bis dahin geheimen Versuch informiert und aufgefordert, allfällig in eigenen Schubladen, Handtaschen usw. entdeckte Löffel zurückzubringen.
Die Resultate sind einigermassen verblüffend: In den 5 Monaten waren 56, d. h. 80 Prozent, von 70 Löffeln verschwunden. Der Appell zur Rückerstattung hatte nur 5 Stück eingebracht. Die Halbwertszeit von Teelöffeln liegt damit bei 81 Tagen, will heissen: Nach 81 Tagen war jeweils die Hälfte der Löffel verschwunden. Die Qualität der Löffel dagegen erwies sich als statistisch irrelevant – billige verschwanden ebenso schnell wie teure.“

(NZZ vom 8.1.2006)

Die enorme volkswirtschaftliche Bedeutung ihres Befundes erhellen die drei Forscher, indem sie diese Zahlen auf die arbeitende Bevölkerung von Melbourne hochrechnen (2,5 Millionen): Laut ermittelter Schwundrate verschwinden hier jedes Jahr 18 Millionen Teelöffel alleine am Arbeitsplatz. Rechnet man das Ergebnis auf die Verhältnisse in Deutschland um (ca. 40 Mio. Beschäftigte) ergibt dies einen Löffelschwund von 288 Millionen!

“Angespornt vom Erfolg der Teelöffel-Studie beschäftigten sich zwei Forscher auch mit dem berühmten Sockenphänomen. Werden Socken wirklich von Waschmaschinen gefressen? Der Statistiker Geoff Ellis und der Psychologe Simon Moore entwickelten sogar eine Formel für den Sockenschwund. Der sogenannte Socken-Verlust-Index berechnet die Wahrscheinlichkeit für verschwundene Socken mit: (L(p x f) + C(t x s)) – P x A. L steht dabei für die Wäschemenge, die sich aus der Multiplikation der Anzahl der Haushaltsmitglieder (p) und der Anzahl der Wäschen pro Woche (f) berechnet. C bringt die Komplexität einer Wäsche zum Ausdruck: Die Art von Wäsche, also Koch-/Feinwäsche oder Bunt-/Weißwäsche. (t) wird malgenommen mit der Anzahl der Socken (s). Davon abgezogen wird die Multiplikation aus P und A. P entspricht dabei der persönlichen Motivation zum Waschen und A der Aufmerksamkeit, die derjenige, der wäscht, der Aufgabe widmet.“
(Stuttgarter Nachrichten vom 18.11.2018)

Solche Forschungen sollten unverzüglich in der Gruppe der Nachhaltigkeitsmanager diskutiert werden.

Dramulett

Treffen sich zwei Theaterkritiker…

Kritikergespräch

Treffen sich zwei Theaterkritiker in einem Bahnhofsrestaurant. Der eine ist älter, der andere ist jünger.

Meier:
Hallo Krause, na das ist ja eine Überraschung. Sind sie auch wieder einmal Dank der Bahn gestrandet?

Krause:
Ja, Oberleitungsschaden. Woraus werden eigentlich Oberleitungen gemacht, ich dachte immer aus Stahl?

Meier:
Wahrscheinlich hat man heute ein neues Material erfunden, das in Vietnam hergestellt wird und so die Bahn viel Geld sparen kann. Ich bestelle ihnen gleich mal ein Bier, das hilft.

Krause:
Das ist gut, Danke. Wohin waren Sie den unterwegs?

Meier:
Fragen Sie lieber nicht wohin ich gemusst hätte, fragen Sie, was mir erspart bleibt anzusehen.

Krause:
Ich wollte mir die neueste performance der Gruppe Tzzzkrch in N. ansehen, das soll spektakulär sein. Und Sie?

Meier:
Die Räuber NACH Schiller, ich bin froh, dass auf die Zugausfälle der Bahn noch verlaß ist.

Krause:
Sie sollten nicht so defätistisch sein, das Theater ist lebendig und warum nicht mal die Räuber NACH Schiller spielen?

Meier:
Die aktuelle Gegenfrage lautet: Warum nicht wenigstens einmal die Räuber VON Schiller spielen? Es soll Theaterbesucher geben, die wegen eines Ihnen bekannten Stücktitels ins Theater gehen.

Krause:
Das war früher, als es noch Abonnenten gab. Heute geht man, um einem live act beizuwohnen, ein event zu erleben.

Meier:
Live act, event – das ist das Blödsprech. Theater ist seit 2000 Jahren live und was ist überhaupt ein event? Ein Erlebnis?

Krause:
Ja,ja – aber eben ein besonderes, was mich aus dem Alltag herausholt?

Meier:
Ah!, und deshalb werden ständig die Probleme des Alltags auf der Bühne verhandelt?

Krause:
Aber eben künstlerisch überhöht!! Darauf kommt es doch an, Herr Kollege!

Meier:
Aha. Kennen Sie den Unterschied zwischen einem modernen und einem überholten Theater?

Krause:
Ja schon, man muss vor allem die gender…

Meier:
In einem überholten Theater standen nackte Frauen auf der Bühne, im modernen sind es jetzt die Männer.

Krause:
Und wo ist die Pointe?

Meier:
Gibt keine, das ist der Witz.

Krause:
Dann ist es auch nicht lustig.

Meier:
Genau, es ist nicht lustig. Ich war neulich in einer Aufführung bei der das Regieteam zu 100% aus Frauen bestand und alle männlichen Darsteller auf der Bühne nackt waren, aber die weiblichen angezogen.

Krause:
Worum ging es in diesem Stück?

Meier:
Keine Ahnung, das habe ich nicht herausgefunden, aber wahrscheinlich ging es darum, Männer nackt auf die Bühne zu stellen.

Krause:
Tja, da kann MAN eben auch mal sehen, wie erniedrigend es vor allem für Frauen war, nackt auf der Bühne zu stehen.

Meier:
Papperlapapp, man muss überhaupt niemand nackt auf die Bühne stellen. Auf die Bühne gehören Schauspieler vor allem gute, denn die können alles spielen, auch Nacktheit, obwohl die angezogen sind.

Krause:
Und SchauspielerINNEN, sehen Sie….

Meier:
Was sehe ich?

Krause:
Sie sprechen schon wieder nur von Schauspielern…

Meier
… schon mal vom generischen Maskulinum gehört, Herr Kollege…

Krause:
Nu werden Sie mal nicht dreist, es geht hier nicht um Grammatik sondern Geschlechtergerechtigkeit. Und in den letzten Jahrhunderten wurden die Frauen immer unterdrückt, dann müssen eben jetzt mal die Männer erleben, wie sich das anfühlt.

Meier:
Das können Sie gerne in ihrer Agit-Prop-Gruppe oder in einem ayoverdischen Stuhlkreis ausdiskutieren, aber doch bitte nicht auf dem Theater, wo der arme Zuschauer auch Geld dafür bezahlt.

Krause:
Wir fordern doch immer, das auf dem Theater die wichtigen Gesellschaftsfragen verhandelt werden, aber wenns mal wehtut, dann gefällt es uns nicht.

Meier:
Es tut weh, dass vollkommen unwichtige Fragen breitgetreten werden.

Krause:
Also geht es darum, wer entscheidet, welche Fragen, die wichtigen sind?

Meier:
Früher war das keine Frage, Theater war eine Ensemblekunst in dem Sinne, dass Autoren die Stücke schrieben, die Dramaturgen lasen und den Regisseuren vorschlugen, die dann den Schauspielern halfen, die Geschichte durch eine überzeugende Darstellung der Rollen zu erzählen. Am Ende entschied das Publikum, was davon zu halten war.
Heute machen einfach alle alles, das Ergebnis ist ein inhaltsloses Durcheinander, genannt Performance…

Krause
Sie vereinfachen aber sehr stark, Herr Kollege, man muss schon etwas mit der Zeit gehen.

Meier
„Denn alles was so übertrieben wird, ist dem Vorhaben des Schauspiels, dessen Zweck sowohl Anfangs als jetzt war und ist, der Natur gleichsam den Spiegel vorzuhalten, der Tugend, die eignen Züge, der Schmach, ihr eignes Bild und dem Jahrhundert und Körper und der Zeit den Abdruck seiner Gestalt zu zeigen.“

Krause
Schön zitiert, aus welchem Folianten habt ihr das?

Meier
Hamlets Rede an die Schauspieler.

Krause
Oh!

Meier
Neulich war ich auf einer Konferenz mit dem Titel „Die Zukunft des Theaters“.

Krause
Und wie war es?

Meier
Es kann einem Angst und Bange werden.

Krause
Wie wird denn die Zukunft aussehen?

Meier
Divers, antirassistisch, gendergerecht und vor allem nachhaltig.

Krause
Na, das ist doch alles sehr gut.

Meier
Ja, nur leider wird das Theater keine Inhalte mehr haben, weil alle nicht nur alles gleichzeitig machen, sondern auch noch stets und ständig sich belauern müssen, ob sie diese Kriterien auch wirklich erfüllen. Es kommt einfach nur noch auf die richtigen Phrasen an.

Krause
Sie sind wirklich ein Schwarzmaler.

Meier
Nein, ich bin Theaterkritiker. Gewesen. – Noch zwei Bier bitte!

Krause
Nun machen Sie mal halblang. Das Theater hatte doch wirklich einiges an Machtmißbrauch zu bieten, das kann man doch nicht ignorieren.

Meier
Das ist doch eine Selbstverständlichkeit.
Machtmißbrauch ist Machtmißbrauch.
Aber soll ein Dirigent sein Orchester stets fragen, ob auch wirklich alle einverstanden sind und sich nicht diskriminiert fühlen, wenn sie einsetzen genau dann, wenn er den Taktstock runter schlägt?
Irgendein vernünftiger Mensch hat einmal gesagt „Theater ist keine basisdemokratische Veranstaltung!“
Wer Macht hat, hat Verantwortung und dafür muss er einer vorbildlichen Elite angehören, aber dieses Wort ist ja inzwischen auch unter die Räder der Zensur gekommen.

Krause
Ich weiß wirklich nicht, was dagegen spricht, am Theater mehr Demokratie zu wagen?

Meier
Sie haben auch nicht die Zeiten des Mitbestimmungstheaters in den 70ern miterlebt.

Krause
Dafür kann ich nichts, das ist die Gnade der späteren Geburt.

Meier
Na, ob das eine Gnade ist…

Krause
Offensichtlich leide ich nicht so sehr unter dem modernen Thester wie Sie.

Meier
Kennen Sie Dr. Murkes gesammeltes Schweigen von Heinrich Böll?

Krause
Nein, ist das ein Theaterstück?

Meier
Nein, das ist eine Novelle. Sie handelt von einem Tonmeister, der sich alle Pausen, jeden Moment der Stille aus den Tonbändern der Rundfunkproduktionen rausschneidet und aufhebt. Und wenn er wieder einmal wegen des unsäglichen Geplappers kurz vor einer Depression ist, dann spielt er sich diese Sekunden des Schweigens vor.

Krause
Eine schöne Metapher nur leider völlig unpassend für das Theater.

Meier
Sie haben vor lauter performance wirklich jeden Sinn für Poesie verloren.

Krause
Aber wenigstens kriege ich keine Depressionen.

Meier
Ja, auch nicht mal mehr das.

Krause
Ihre Anzüglichkeiten nehmen in einem nicht zu akzeptierenden Maße zu.

Meier
Melden Sie mich doch der Antidiskriminierungskommission.

Krause
Vielleicht sollten wir beide uns mal eine Unterhaltung mit einem Mediator gönnen?

Meier
Ja, sehr gerne, aber unter einer Bedingung: jeder Teilnehmer muss alle Stücke Shakespeares gelesen haben und die Unterhaltung darf ausschließlich aus Zitaten aus diesen Werken bestehen.

Krause
Das ist völlig unrealistisch, dafür hat niemand Zeit. – Apropo: da wird mein Zug angezeigt, anscheinend ist der Oberleitungsschaden behoben und ich komme vielleicht noch zur Pause zurecht und kann mir wenigstens den zweiten Teil ansehen.

Meier
Herzliches Beileid, ich bestelle mir ein drittes Bier und gehe dann ins Hotel und lese Hamlet, das Stück habe ich immer dabei.

Krause
Haha…“Sein oder Nichtsein…“ usw.

Meier
Nein.

„Schlafen! Vielleicht auch träumen! Ja, da liegts:
Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,
Wenn wir die irdische Verstrickung lösten,
Das zwingt uns stillzustehn.
Das ist die Rücksicht,
Die Elend läßt zu hohen Jahren kommen.
Denn wer ertrüg der Zeiten Spott und Geißel,
Des Mächtigen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,
Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,
Den Übermut der Ämter und die Schmach,
Die Unwert schweigendem Verdienst erweist,
Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte“

Das Nachtstück

Das Stück zur Nacht
Es gibt Menschen, die verharren vor dem Bildschirm, den man früher Fernseher nannte, bis sie so ermüdet von der Bilderflut, dem Kanal-Zapping und dem Einschlafen zwischendurch und gerädert sind, dass sie zwar todmüde ins Bett fallen, aber dann doch nicht in den Schlaf finden.
Diesen und allen anderen Menschen, die Einschlafprobleme haben, sei etwas in Erinnerung gebracht, daß eigens dafür erfunden wurde, uns den Übergang vom Tag in die Nacht so wunderbar als möglich zu machen, daß man sich manches mal wünschte, es würde auch beim letzten Übergang zum ewigen Schlaf so sein. Gemeint ist das Nachtstück, das wir spätestens seitdem Frederic Chopin es in jedem ordentlichen bürgerlichen Wohnzimmer einziehen ließ, Nocturne genannt wird.
Die Voraussetzungen sind wenig anspruchsvoll. Zuerst sollte man alle Geräte, die jedwede Art von Lärm verursachen, abschalten und sich und seinen Mitmenschen und -tieren wenigstens 10-15 Minuten Ruhe gönnen. – Echte connaisseurs verbringen einen Abend entweder Musik hörend oder in Stille lesend bzw. sich anregend unterhaltend, niemals beides gleichzeitig. – In diesem Minuten der Stille verbietet sich auch jedes Telefonieren, Chatten und irgendwie im Internet und auf irgendwelchen Geräten herumzudaddeln. Wer irgend etwas tun muß und nicht still sitzen kann, sollte sich ein Glas Rotwein einschenken oder einen Tee kochen und mal versuchen, an nichts zu denken. Man wird staunen, wie anstrengend das ist.
Nachdem man ausreichend Stille ausgehalten hat, sollte man sich nun aus der reichhaltigen Auswahl mehr oder weniger bekannter Nocturnes ein beliebiges auswählen, abspielen und nichts weiter machen, als zuzuhören.
Nocturnes gibt es von Chopin, Debussy, Rachmaninow, Clara und Robert Schumann, Franz Liszt, John Field (meine Empfehlung) und vielen anderen Komponisten. Man sollte jeden Abend nur ein Nocturne hören, das genügt. Und man braucht keine Angst zu haben, ein Nocturne dauert in der Regel zwischen 6 und 8 Minuten. Wer sich eine Playlist erstellt hat dann Vorrat für die nächsten Tage.
Danach kann man sich getrost ins Bett legen (wen man nicht an einer lärmenden Straße wohnt, das Fenster öffnen) und einschlafen.
Eisame Gedanken oder leise Dialoge mit der Nacht nannte man diese Notturni auch und kein geringer als Rainer Maria Rilke hat ihnen eines seiner Gedichte gewidmet:
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste Stunde steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.

Wie so viele westliche Musikformen hat das Nocturn seine Vorläufer in der Musik, die für die christliche Liturgie geschrieben ist. Jedes der vielen täglichen Ämter (Gottesdienste) der Kirche hat seine eigene Tageszeit, und der nächtliche Gottesdienst war ein nächtlicher Gottesdienst. Im Laufe der Zeit bezog sich die notturno, um ihren ursprünglichen italienischen Namen zu verwenden, auf nicht-liturgische Musikstücke, die nachts aufgeführt werden sollten. Vor John Field hatte das Nocturne nicht das Gefühl, einen Aspekt der Nacht darzustellen. Genau, warum Field den Namen „nocturne“ gewählt hat, bleibt unklar. Er hatte in der Tat daran gedacht, seine kurzen, poetischen Werke „Romanzen“ zu nennen, in Nachahmung der damals kurzen Gesangswerke im Belcanto-Stil. Fields 16 (oder 17, je nachdem, wie Sie zählen) Nocturnes teilen die Eigenschaft, eine fließende Begleitung zu haben, in der Regel einen rollenden linken Alberti-Bass, mit einer singenden Melodie darüber, die normalerweise von der rechten Hand gespielt wird. Mir scheint es bedeutsam darauf hinzuweisen, daß das Nocturne seine Wirkung am besten entfaltet, wenn es nach einer Weile Stille erklingt. Das liegt vielleicht daran, daß ich der Stille generell eine große Wertschätzung widme. Wo findet man sie heute noch? Wer eine Reise unternimmt findet sie nur noch unter einem high-tech Kopfhörer mit noisecanceling Funktion. Dieses Gadget (um im englischen Technikjargon zu bleiben) ist heute unverzichtbar, aber die wirkliche Stille ist es nicht, es ist eine künstliche.
Die Stille ist etwas wie die Sterne am Himmel. Auch sie können die Stadtmenschen nicht sehen, so hell leuchten die Städte. Nur Menschen auf dem Land und dort auch nur die, die noch Abends zum Beispiel mit dem Hund am Feld entlang gehen, kennen den großartigen Anblick des Himmels in einer sternenklaren Nacht. Gäbe es die Nacht nicht, wir könnten die Sterne nicht sehen und es gäbe kein Nachtstück. „Man müsste den Kindern einbläuen: Schaut in den Himmel! Geht nicht ins Bett, bevor ihr nicht in den Himmel geschaut habt. Zähneputzen könnt ihr einmal oder zweimal vergessen, aber nicht vergessen sollt ihr, in den Himmel zu schauen. Nicht, damit sie gute Menschen werden, das werden sie oder werden sie nicht. Schaut in den Himmel, weil er da ist …“ lässt Michael Köhlmeier in seinem Buch „Das Philosophenschiff“ die hundertjährige Anouk Perleman-Jacob sagen.
Und so könnte man fortfahren und den Erwachsenen zurufen: Hört ein Nocturne bevor ihr schlafen geht, einfach weil es diese Nachtstücke gibt. Bessere Menschen werdet ihr nicht, aber besser einschlafen werdet ihr schon allein deshalb, weil ihr wenigstens mal eine knappe halbe Stunde nicht auf eure Bildschirme gestarrt und die Stille ausgehalten habt.

  1. Februar 2024