Von Teelöffeln und Socken

Es sind nicht immer die großen Dinge, die die Zeitläufte bestimmen. Auch viele kleinen Ereignisse, die wir zwar wahrnehmen, ihnen aber nicht die gebotene Aufmerksamkeit schenken, sollten nicht unbeachtet bleiben.

Zum Beispiel verschwinden weltweit überdurchschnittlich viele Teelöffel in Kantinen, Büros, Mensen, Speisewagen,, Co-Working Spaces. Jeder kann das leicht nachprüfen. Geht man davon aus, das dereinst zur Grundausstattung die gleiche Anzahl an Messern, Gabeln, Löffeln und eben Teelöffeln gehörten, müssten bei einer Inventur auch annähernd die gleiche Anzahl jeweils noch vorhanden sein. Ist es aber nicht. Machen Sie den Test und Sie werden feststellen, dass überdurchschnittlich viele Teelöffel fehlen.

In Deutschland könnten jährlich ca. 288 Millionen Teelöffel verschwinden bzw. müssten ersetzt werden!
Das ist kein Pappenstiel.
Umso erstaunlicher, dass sich bisher niemand hierzulande mit dem Thema beschäftigt hat.
Dafür aber glücklicherweise in Australien.
Drei Wissenschafter des Center for Epidemiology and Population Health Research in Melbourne waren in der Lage, ihr angestammtes Fachgebiet zu verlassen und wissenschaftlich das Phänomen zu untersuchen.
“70 neu gekaufte Teelöffel – davon 16 extra teure – wurden diskret nummeriert (mit Nagellack) und in den 8 Teeküchen des Instituts verteilt. Danach wurden die Löffel über 5 Monate wöchentlich gezählt. Nun wurden alle Institutsmitarbeiter über den bis dahin geheimen Versuch informiert und aufgefordert, allfällig in eigenen Schubladen, Handtaschen usw. entdeckte Löffel zurückzubringen.
Die Resultate sind einigermassen verblüffend: In den 5 Monaten waren 56, d. h. 80 Prozent, von 70 Löffeln verschwunden. Der Appell zur Rückerstattung hatte nur 5 Stück eingebracht. Die Halbwertszeit von Teelöffeln liegt damit bei 81 Tagen, will heissen: Nach 81 Tagen war jeweils die Hälfte der Löffel verschwunden. Die Qualität der Löffel dagegen erwies sich als statistisch irrelevant – billige verschwanden ebenso schnell wie teure.“

(NZZ vom 8.1.2006)

Die enorme volkswirtschaftliche Bedeutung ihres Befundes erhellen die drei Forscher, indem sie diese Zahlen auf die arbeitende Bevölkerung von Melbourne hochrechnen (2,5 Millionen): Laut ermittelter Schwundrate verschwinden hier jedes Jahr 18 Millionen Teelöffel alleine am Arbeitsplatz. Rechnet man das Ergebnis auf die Verhältnisse in Deutschland um (ca. 40 Mio. Beschäftigte) ergibt dies einen Löffelschwund von 288 Millionen!

“Angespornt vom Erfolg der Teelöffel-Studie beschäftigten sich zwei Forscher auch mit dem berühmten Sockenphänomen. Werden Socken wirklich von Waschmaschinen gefressen? Der Statistiker Geoff Ellis und der Psychologe Simon Moore entwickelten sogar eine Formel für den Sockenschwund. Der sogenannte Socken-Verlust-Index berechnet die Wahrscheinlichkeit für verschwundene Socken mit: (L(p x f) + C(t x s)) – P x A. L steht dabei für die Wäschemenge, die sich aus der Multiplikation der Anzahl der Haushaltsmitglieder (p) und der Anzahl der Wäschen pro Woche (f) berechnet. C bringt die Komplexität einer Wäsche zum Ausdruck: Die Art von Wäsche, also Koch-/Feinwäsche oder Bunt-/Weißwäsche. (t) wird malgenommen mit der Anzahl der Socken (s). Davon abgezogen wird die Multiplikation aus P und A. P entspricht dabei der persönlichen Motivation zum Waschen und A der Aufmerksamkeit, die derjenige, der wäscht, der Aufgabe widmet.“
(Stuttgarter Nachrichten vom 18.11.2018)

Solche Forschungen sollten unverzüglich in der Gruppe der Nachhaltigkeitsmanager diskutiert werden.

Das Nachtstück

Das Stück zur Nacht
Es gibt Menschen, die verharren vor dem Bildschirm, den man früher Fernseher nannte, bis sie so ermüdet von der Bilderflut, dem Kanal-Zapping und dem Einschlafen zwischendurch und gerädert sind, dass sie zwar todmüde ins Bett fallen, aber dann doch nicht in den Schlaf finden.
Diesen und allen anderen Menschen, die Einschlafprobleme haben, sei etwas in Erinnerung gebracht, daß eigens dafür erfunden wurde, uns den Übergang vom Tag in die Nacht so wunderbar als möglich zu machen, daß man sich manches mal wünschte, es würde auch beim letzten Übergang zum ewigen Schlaf so sein. Gemeint ist das Nachtstück, das wir spätestens seitdem Frederic Chopin es in jedem ordentlichen bürgerlichen Wohnzimmer einziehen ließ, Nocturne genannt wird.
Die Voraussetzungen sind wenig anspruchsvoll. Zuerst sollte man alle Geräte, die jedwede Art von Lärm verursachen, abschalten und sich und seinen Mitmenschen und -tieren wenigstens 10-15 Minuten Ruhe gönnen. – Echte connaisseurs verbringen einen Abend entweder Musik hörend oder in Stille lesend bzw. sich anregend unterhaltend, niemals beides gleichzeitig. – In diesem Minuten der Stille verbietet sich auch jedes Telefonieren, Chatten und irgendwie im Internet und auf irgendwelchen Geräten herumzudaddeln. Wer irgend etwas tun muß und nicht still sitzen kann, sollte sich ein Glas Rotwein einschenken oder einen Tee kochen und mal versuchen, an nichts zu denken. Man wird staunen, wie anstrengend das ist.
Nachdem man ausreichend Stille ausgehalten hat, sollte man sich nun aus der reichhaltigen Auswahl mehr oder weniger bekannter Nocturnes ein beliebiges auswählen, abspielen und nichts weiter machen, als zuzuhören.
Nocturnes gibt es von Chopin, Debussy, Rachmaninow, Clara und Robert Schumann, Franz Liszt, John Field (meine Empfehlung) und vielen anderen Komponisten. Man sollte jeden Abend nur ein Nocturne hören, das genügt. Und man braucht keine Angst zu haben, ein Nocturne dauert in der Regel zwischen 6 und 8 Minuten. Wer sich eine Playlist erstellt hat dann Vorrat für die nächsten Tage.
Danach kann man sich getrost ins Bett legen (wen man nicht an einer lärmenden Straße wohnt, das Fenster öffnen) und einschlafen.
Eisame Gedanken oder leise Dialoge mit der Nacht nannte man diese Notturni auch und kein geringer als Rainer Maria Rilke hat ihnen eines seiner Gedichte gewidmet:
Das ist die Sehnsucht: wohnen im Gewoge
und keine Heimat haben in der Zeit.
Und das sind Wünsche: leise Dialoge
täglicher Stunden mit der Ewigkeit.
Und das ist Leben. Bis aus einem Gestern
die einsamste Stunde steigt,
die, anders lächelnd als die andern Schwestern,
dem Ewigen entgegenschweigt.

Wie so viele westliche Musikformen hat das Nocturn seine Vorläufer in der Musik, die für die christliche Liturgie geschrieben ist. Jedes der vielen täglichen Ämter (Gottesdienste) der Kirche hat seine eigene Tageszeit, und der nächtliche Gottesdienst war ein nächtlicher Gottesdienst. Im Laufe der Zeit bezog sich die notturno, um ihren ursprünglichen italienischen Namen zu verwenden, auf nicht-liturgische Musikstücke, die nachts aufgeführt werden sollten. Vor John Field hatte das Nocturne nicht das Gefühl, einen Aspekt der Nacht darzustellen. Genau, warum Field den Namen „nocturne“ gewählt hat, bleibt unklar. Er hatte in der Tat daran gedacht, seine kurzen, poetischen Werke „Romanzen“ zu nennen, in Nachahmung der damals kurzen Gesangswerke im Belcanto-Stil. Fields 16 (oder 17, je nachdem, wie Sie zählen) Nocturnes teilen die Eigenschaft, eine fließende Begleitung zu haben, in der Regel einen rollenden linken Alberti-Bass, mit einer singenden Melodie darüber, die normalerweise von der rechten Hand gespielt wird. Mir scheint es bedeutsam darauf hinzuweisen, daß das Nocturne seine Wirkung am besten entfaltet, wenn es nach einer Weile Stille erklingt. Das liegt vielleicht daran, daß ich der Stille generell eine große Wertschätzung widme. Wo findet man sie heute noch? Wer eine Reise unternimmt findet sie nur noch unter einem high-tech Kopfhörer mit noisecanceling Funktion. Dieses Gadget (um im englischen Technikjargon zu bleiben) ist heute unverzichtbar, aber die wirkliche Stille ist es nicht, es ist eine künstliche.
Die Stille ist etwas wie die Sterne am Himmel. Auch sie können die Stadtmenschen nicht sehen, so hell leuchten die Städte. Nur Menschen auf dem Land und dort auch nur die, die noch Abends zum Beispiel mit dem Hund am Feld entlang gehen, kennen den großartigen Anblick des Himmels in einer sternenklaren Nacht. Gäbe es die Nacht nicht, wir könnten die Sterne nicht sehen und es gäbe kein Nachtstück. „Man müsste den Kindern einbläuen: Schaut in den Himmel! Geht nicht ins Bett, bevor ihr nicht in den Himmel geschaut habt. Zähneputzen könnt ihr einmal oder zweimal vergessen, aber nicht vergessen sollt ihr, in den Himmel zu schauen. Nicht, damit sie gute Menschen werden, das werden sie oder werden sie nicht. Schaut in den Himmel, weil er da ist …“ lässt Michael Köhlmeier in seinem Buch „Das Philosophenschiff“ die hundertjährige Anouk Perleman-Jacob sagen.
Und so könnte man fortfahren und den Erwachsenen zurufen: Hört ein Nocturne bevor ihr schlafen geht, einfach weil es diese Nachtstücke gibt. Bessere Menschen werdet ihr nicht, aber besser einschlafen werdet ihr schon allein deshalb, weil ihr wenigstens mal eine knappe halbe Stunde nicht auf eure Bildschirme gestarrt und die Stille ausgehalten habt.

  1. Februar 2024